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Kendall Scott@unsplash
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Wie alt ist eigentlich 50+?

Schon seit vielen Jahren – ungefähr seit 1997 – beschäftige ich mich mit dem Thema Alterung der Gesellschaft.  Begonnen hat es zu meiner Zeit in der Marketingabteilung eines großen Finanzdienstleisters und seither ist der Begriff, die Zielgruppendefinition  50+, immer dabei. 

Ich habe diesen Ansatz von Anfang an kritisch betrachtet, weil es m. E. keinen Sinn macht, Menschen über 50 in eine Gruppe mit Menschen in den 70ern, 80ern oder 90ern zu packen.  

Es gab auch im Marketing nie eine Zielgruppe 50minus, schon auffällig.

Da werden jahrzehntelang Lösungen und Produkte für „die Alten“ entwickelt, aber im Bereich der jungen Konsumenten geht sehr dezidiert nach Altersgruppen wie Twens, Teens, Kids oder „Subkulturen“ – sehr differenzierte Ansätze, die bei Älteren scheinbar keinen Sinn machen, obwohl sich Menschen mit zunehmendem Lebensalter deutlich weiter differenzieren.

Heute – 35 Jahre später – ist „50+“ immer noch im Umlauf und ich frage mich, wieso das so ist. 

In Deutschland hat sich 50+ im Kontext der Privatisierung des Fernsehens etabliert. Um 1984 hat der damalige Geschäftsführer von RTL, Helmut Thoma, die „relevante Werbegruppe 18-49“ definiert. Menschen 50+ waren der Rest vom Schützenfest und nicht im Fokus der Vermarktung der damaligen Fernsehsender. In einem Interview in den 2000er Jahren gab Thoma dann zu, dass die Entwicklung und Beschreibung der relevanten Werbegruppe rein willkürlich entstanden sei. „Willkür“ finden sie später nochmals in diesem Beitrag 😉.

Also eine Definition, die vor 40 Jahren entstanden ist, findet unverändert im heutigen Marketing Anwendung. So etwas kommt auch nicht allzu häufig vor. 

50+ gibt es aber eigentlich schon deutlich länger. Die Zielgruppenbeschreibung ist ursprünglich in den USA entstanden. 1957 hat Leonard H. Goldenson, der Gründer des TV-Senders „ABC Network“, die Zielgruppe 50+ als nicht relevant beschrieben. Wir reden also von fast 70 Jahren Lebensdauer dieser Zielgruppe in den USA, denn noch immer kommen 50plus-Produkte auf den Markt. Ganz aktuell ist gerade ein Bier für die Zielgruppe 70plus für den amerikanischen Markt vorgestellt worden: Beck's 70+ – Mal sehen, wie es ankommt, bzw. ob es der Zielgruppe schmeckt.

Interessant ist aber, dass 1957 in den USA die Babyboomer in den jungen Jahren waren, also die Zielgruppe von ABC war. Die jetzige Zielgruppe 50+ ist eigentlich entstanden, weil man sich damals auf die jungen Babyboomer fokussiert hat. 

Heute schließt diese Definition von damals die gleichen Menschen in der Werbung aus, respektive verführt dazu, für Menschen ab der Altersgrenze 50 spezielle Dienstleistungen und Produkte zu entwickeln, weil sie nicht zur normalen Zielgruppe gehören. Zudem wird „alt“ immer mit Einschränkungen gleichgesetzt.

Auf der SXSW-Konferenz in Austin, Texas hat der Buchautor Bradley Schurman in der Session „The New Demographic Reality and It's Impacts“ deutlich gemacht: „Nobody wants to be othered“. Was hat er damit gemeint?

Othering bedeutet, dass Menschen oder Gruppen negative Eigenschaften zugeschrieben werden, die sie von der wahrgenommenen normativen sozialen Gruppe unterscheiden. Also „die Alten“ sind anders als der Rest der Gesellschaft. 

Diese Denkweise „Wir-gegen-sie“ spaltet Gesellschaften, denn es geht im Wesentlichen darum, andere zu betrachten und zu sagen: „Sie sind nicht wie ich“ oder „Sie sind nicht einer von uns“. Also um das Gegenteil einer diversen und offenen Gesellschaft.

Peter Kaldes, President & CEO American Society On Aging, teilt diesen Standpunkt. In unserem Gespräch zum Thema Technologie und Digitalisierung einer alternden Gesellschaft, das auch im Rahmen der SXSW stattfand, stellt er fest: „Meiner Meinung nach laufen einige Dinge schief: Zum einen gibt es eine Art soziales Hindernis, das sowohl Gründer als auch Risikokapitalgeber und andere überwinden müssen, und das ist das Klischee, dass ältere Erwachsene nicht daran interessiert sind, Technologien zur Lösung ihrer Probleme einzusetzen.“ 

Auch hier sprechen „wir“, die digitalaffinen Menschen, über „die Anderen“, und es entwickeln sich Klischees und Stereotypen. Dass auf dieser Basis keine passenden Produkte entstehen können, versteht sich von selbst.

Aktuell, im Mai 2023, tut sich etwas in Deutschland, denn es gibt eine sehr interessante Entwicklung auf der Ebene der Bundespolitik. Es ist beschlossen worden, dass die Heizungsreform umgesetzt wird. D. h. verbaute Gas- und Ölheizungen müssen ersetzt werden. Es gibt im aktuellen Gesetzentwurf eine Klausel mit einer Ausnahmeregelung für Hauseigentümer ab 80 Jahren. Sie sollen von dieser Pflicht ausgenommen werden, und jetzt kommt der interessante Teil: Dieser Gesetzentwurf geht in den Bundesrat und der Umweltausschuss wird gegen diese, Zitat, „willkürlich und verfassungsrechtlich bedenkliche Altersgrenze“ angehen. Das finde ich sehr bemerkenswert. 

Endlich scheint auf der politischen Ebene angekommen zu sein, dass eine wahllose Grenze aufgrund eines gewissen Alters keinen Sinn macht. Was wollen die Menschen im Umweltausschuss des Bundesrates stattdessen machen? Sie wollen eine Ausnahmeregelung beschließen, die sich am individuellen Renteneintritt orientiert. Ein klarer Ansatz weg vom chronologischen Alter hin zu einem Live Stage Event!

Ich habe mich heute sehr über diese Nachricht gefreut, denn sie entspricht meiner Überzeugung und ich hoffe, dass solche Regelungen noch in vielen Bereichen Anwendung finden und wir endlich die 50-, 60- oder 70+-Definition zu Grabe tragen können.

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